Er löste den gelben Post-it-Marker von seinem Kalender und brachte ihn ein paar Zentimeter abwärts wieder an. Er begann jeden Tag damit, diesen Klebezettel auf den neuen Tag zu setzen. Und wenn er halt wie heute bis nach Mitternacht wach war, so machte er es halt nicht nach dem Aufstehen.
Nur wenige aus seiner Verwandt- und Bekanntschaft kannten diese Sitte. Noch weniger hielten ihn deswegen nicht für verrückt.
Er hatte seine Erklärung, konnte damit das Verstreichen der Zeit visuell beobachten, konnte sofort morgens das Datum behalten. Ausserdem konnte er auch leicht sehen, wenn Termine näher rückten, wenn er sie ebenfalls in den Kalender gemalt hatte.
Die meisten seiner Schulkameraden klebten sich Bilder aus der Bravo, Filmplakate und ihre Lieblingssänger an die Wände. Er investierte jedes neue Jahr ein paar Euro, um einen aktuellen Kalender an seiner Wand zu haben. Für das Geld hätte man schon ein paar Bravo-Poster haben können. Bravo-Poster sind schließlich auch noch nächstes Jahr interessant.
Das Feld über dem neuen Heute war mit einem grünen B beschriftet. Sein Geburtstag/Birthday war somit offiziell vorbei.
Er begann, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, über den Tag und die Bedeutung des Tages überhaupt nachzudenken.
'Der Geburtstag ist der Jahrestag der Geburt... Warum gibt es eigentlich keinen Jahrestag der Zeugung? Der Tag ist für die Entstehung doch eigentlich wichtiger als der Geburtstag. Der Tag war wahrscheinlich auch etwas angenehmer und fröhlicher für meine Eltern als der Tag, an dem jede Frau den Mann verflucht, der ihr das angetan hat.
Okay, aber auch ohne meine Geburt wäre ich wahrscheinlich nicht hier. Also ist der Geburtstag doch etwas Besonderes.
Wenn jemand meinen Geburtstag nicht wahrnimmt, sich nicht daran erinnert, existiere ich dann für ihn?'
Es machte ihn nicht nur ein wenig depressiv, dass den ganzen Tag über niemand für ihn angerufen, niemand telefonisch gratuliert hat. Er selbst bemühte sich, ein paar Leute immer an ihrem Geburtstag anzurufen.
'Selbst, wenn man sich kaum noch kennt - wenigstens zum Geburtstag kann man ja anrufen.'
Die Liste der Leute, deren Geburtstag er durch einen Anruf zu würdigen wusste, schmolz jedes Jahr weiter zusammen. Insbesondere kurz nach seinem Geburtstag beschloss er immer wieder, zu einigen Leuten die Kommunikation vollends einzustellen.
Seine Gedanken wurden begleitet von ein wenig Musik. Die CD war brandneu und eben erst ausgepackt. Sie war bereits am Tag davor angekommen, durfte aber erst am Geburtstag, einem Feiertag, geöffnet werden. Er hatte keine Ahnung, von wem sie stammte; der Absender hatte keine Adresse geschrieben. Er wusste auch, dass keiner seiner Bekannten diese Musik hörte, dennoch passte sie irgendwie genau in seine negative Stimmung und hatte daher auch schon den dritten oder vierten Umlauf hinter sich. Auch die Handbemalung des Covers und die verschiedenfarbig handgeschriebenen Titelnamen auf der Rückseite erinnerten ihn an niemanden, den er gut kannte.
Auf dem Schreibtisch lagen neben ein wenig zusammengeknülltem Geschenkpapier und einigen Glückwunschkarten ein paar angerissene Packungen Pralinen.
Er hatte sich zwar schon lange vorher geschworen, keinen Alkohol mehr zu trinken, aber die Bestandteile von Süßigkeiten hatte er schon damals zur Ausnahme erklärt. Eine Ausnahme, von der er jetzt regen Gebrauch machte.
Auch wenn sich der von früher bekannte Alkoholrausch nicht blicken ließ, so fühlte er langsam eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Sie machte es einfacher, noch nicht darüber nachzudenken, wie sehr er sich später deswegen hassen würde.
Zu den offensichtlichen Folgen des leichten Alkohols gesellen sich die Folgen von viel Schokolade sowie die Erkenntnis, dass er einen großen Teil der Süßigkeiten schon vernichtet hatte, ohne ihn wirklich genießen zu können.
Er liebte es, von geschenkten Süßigkeiten wochenlang zu zehren. Er selbst bevorzugte absolutes Billigzeugs, weil er bei seinen Essgewohnheiten eh keinen Unterschied schmeckte. Umsomehr wollte er edlere Genüsse länger ziehen, um sie auch wirklich schmecken zu können.
Nachdem alle Kerzen ausgeblasen, alle Töpfe geschlagen und alle Teller gespült waren, hatte er sich abends nun doch getraut, online zu gehen.
Er erwartete "das schlimmste": Unmengen von Werbe-Mails, die ihm anlässlich seines Geburtstages irgendwas aufschwatzen wollen, Peggys "Ich habe ein ganz besonderes Geschenk, Du musst nur diesen Dialer starten, um es zu bekommen.", ein paar automatisch erstellte Mails von Kollegen aus dem Netz, und vielleicht auch die eine oder andere ernst gemeinte Glückwunschmail.
GMX versprach zwei Wochen umsonst Premium Service, wenn er danach auch schön Grundgebühr zahlt.
Fertig.
Er suchte die Mails nochmal durch, aber abgesehen von dem normalen Mailfluss war nunmal nichts gekommen.
Drei ICQ-Fenster gingen auf, alle Nutzer schon lange wieder offline. Er kannte die drei, wusste jedoch, dass sie den Tag dort gelesen haben müssen. Die Inhalte waren austauschbar und er konnte den Monolog "Huch - das Fenster sagt mir ja, dass da jemand Geburtstag hat. Kenn ich den? Besser mal eben eine Nachricht schreiben." auch jetzt noch leise hören.
Er fing an, seinen Schreibtisch von dem Geschenkpapier zu befreien. Möglich, dass er darunter noch eine Packung Pralinen finden würde, aber auch nachdem sein Mülleimer um ein paar mehr Zentimeter überfüllt war, konnte er nichts weiter finden. Langsam überlegte er sich, ob er seinen Eltern eine Flasche irgendwas aus dem Kühlschrank klauen sollte.
Er beschloss, sich ins Bett zu legen. Schließlich war es nur ein Geburtstag. Kein Grund, sentimental zu werden, in seinem Alter war ein Jahressprung noch kein Grund, sich alt zu fühlen und der "guten alten Zeit" hinterherzuheulen.
Sein Blick fiel auf sein Mobiltelefon. Das SMS-Zeichen war aktiviert.
Stimmt... das hatte er vergessen 'Wer sich über Handy erinnern lässt, kann doch auch direkt per Handy gratulieren. Die moderneren haben eh schon ein "Herzlichen Glückwunsch zum..." als Vorlage definiert.'
Es gab nur eine neue Nachricht, abgeschickt dreißig Minuten nach Beginn des B-Tages.
Er las sie mehrfach. Sie hatte genau im gleichen Stil gratuliert, wie er es Monate zuvor bei ihrem Geburtstag getan hat. Nur kam ihm ihr Gruß noch viel schöner vor. Das war nix, was vorgefertigt ist, das war nix, was man auf einer Mobiltelefontastatur schnell schreiben kann.
Mit einer kleinen Träne im Auge schaltete er das Licht aus.