Es wird hell

Es wird hell.
Ich gehe durch die Straßen, ich irre durch die Straßen. Kann mich nicht erinnern, etwas hier schon vorher einmal gesehen zu haben. Vorher, bevor ich irrte. Jetzt, wo ich irre, habe ich die meisten Stellen schon mehrfach gesehen. Vielleicht kenne ich die Stellen doch, bin hier zu Hause, aber ich kann mich an gar kein Vorher erinnern.
Ich betrachte Straßenschilder, Plakate, Karten. Sie alle sind nicht zu lesen. Es wirkt wie Schrift, aber die Zeichen ergeben keinen Sinn. Es sind Buchstaben, es *müssen* Buchstaben sein, aber sie ergeben keinen Sinn. Ich kann sie einzeln nicht lesen, ich kann sie zusammen nicht lesen.
Dort ist ein Buchladen. Wie oft habe ich ihn heute schon gesehen? Viermal?, Fünfmal?, Fünfzigmal? Ich weiss es nicht. Ich finde ihn immer wieder. Egal, welche Wege ich gehe, ich komme immer wieder an ihm vorbei.
Ich probiere es. Ich laufe eine Straße immer nur geradeaus. Keine Kurven, nicht abbiegen. Ich laufe, und sehe schon wieder seine Pforten.

Ich betrete den Laden, schaue mich um, lausche ein paar Minuten den Gesprächen der Leute, in einer Sprache, die ich nicht erkenne, die ich nicht verstehe. Ich suche die Bücher entlang nach Zeichen, die ich kenne, Bildern, die mir etwas sagen. Ich finde nichts. Jemand spricht mich an, ich verstehe nichts. Ich sehe ihn an, kenne ihn nicht, verschwinde aus dem Laden, niemand folgt mir.

Dort ist ein Zeitungsstand. Ich bin mir sicher, dass er vorher noch nicht dort war, habe die Stelle oft genug gesehen.
Ich schaue mir die Zeitungen an, der Verkäufer beobachtet mich misstrauisch. Die Zeichen der Zeitungen sagen mir nichts, die Zeichen - Buchstaben - einer Zeitung kommen mir bekannt vor, ergeben aber in ihrer Verbindung keinen Sinn. Dann sehe ich ein Bild. Die Person kenne ich, den Text um den Bild verstehe ich nicht. Es ist Kai, glaube ich, aber was ist mit Kai?

Das Bild löst Erinnerungen aus, die einzigen Erinnerungen. von Davor. von der Freiheit und dem Heim, von Kai und Nicht-Kai.
Wieso bin ich nicht mehr dort? Ich kann mich nicht erinnern, dort rausgekommen zu sein. Bin ich geflohen? Bin ich noch dort? Träume ich? Ich kratze, zwicke, kneife mich, ich wache nicht auf, also träume ich nicht. Also bin ich hier.
Ich traue mich nicht, jemanden zu fragen. Wahrscheinlich könnten wir uns gar nicht verstehen. Vielleicht ruft er die Polizei und sie bringen mich dann zurück. Ich will nicht zurück. Ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich will nicht zurück.
Vielleicht ist Kai auch hier, so wie ich. Vielleicht ist Kai deswegen auf der Zeitung, aber vielleicht ist die Zeitung auch von ganz woanders. Vielleicht ist es gar nicht Kai auf dem Bild. Ich erinnere mich nur, ich glaube nur, mich zu erinnern. Das Foto ist unter dem Boden im Rucksack, der Rucksack ist nicht hier. Ich habe keinen Rucksack, ich habe kein Foto, ich habe keinen Ausweis. Ich bin alleine, ich bin einfach nur hier.

Ich gehe wieder ein paar Schritte, irgendeine Richtung, es ist egal. Ich drehe mich um, der Zeitungsstand ist verschwunden, die Zeitungen sind verschwunden, das Bild, was ich für Kai hielt, ist verschwunden.
Dort ist eine Straße, ich gehe auf sie zu. Ich glaube, ich bin diese Straße noch nicht gelaufen, will sie ausprobieren. Es ist Unsinn, ich bin alle Straßen hier schon vielfach gelaufen, also wenn die Straße vorher schon hier war, so habe ich sie vorher auch schon ausprobiert.
Der Weg ist neu. Ich kenne ihn nicht, erinnere mich nicht, ihn zu kennen. Ein Durchgang. Ein Portal, dann ein Innenhof. Eine Sackgasse. Das ist neu! bisher gab es hier, wo immer hier sein möge, keine Sackgassen, alle Straßen führten weiter.
Häuserreihen links und rechts, eine Wand am Ende. Ich werde neugierig, schaue mir die Eingänge der Häuser an, lese unbekannte Zeichen an den Türen.
Vielleicht sind es Namen. Vielleicht stehen hier die Namen der Leute, die hier wohnen. Wenn hier Leute wohnen.
Vielleicht sind es Nummern. Vielleicht sind es Hausnummern in dieser Straße, deren Namen ich nicht lesen kann. Vielleicht gehen die Zahlen auf oder abwärts. Vielleicht kann ich etwas von diesen Zeichen, von dieser Schrift, verstehen, wenn ich sie mir abschreibe, nebeneinander ansehe. Aber ich habe keinen Stift, habe kein Papier, habe meinen Rucksack nicht hier.
Ich gehe langsam weiter auf die Mauer zu. Ich bekomme Angst. Irgendwie weiß ich, dass ich nicht umkehren kann, dass ich weiter muss. Ich kann nur weiter laufen, ich kann nicht zurück laufen, ich kann nicht umkehren. Ich kann immer nur vorwärts. Selbst wenn ich im Kreis laufe oder immer wieder die gleichen Stellen sehe, ich darf nicht zurück.
Ich weiß nicht, woher ich das weiß, ich weiß nur, dass ich es weiß. Doch wohin geht es weiter, wenn es dort nur eine Wand gibt? Ist der Weg zu Ende? Ist mein Weg zu Ende? Bin ich zu Ende?
Ich gehe noch langsamer, will nicht schneller ankommen. Suche nach einem Weg über die Mauer, keine Leiter, kein Baum, kein Weg. Schaue die Häuser entlang, betrachte die Fensterreihen. links, ein Fenster ist auf, ein Mädchen wäscht sich, nackt. Ich wende den Blick ab. Ich wurde erzogen, habe gelernt, nicht zu gaffen.

STOP! Das ist ein Punkt. Das ist ein fester Punkt. Das ist ein Punkt zum Festhalten. Ich wurde erzogen. Das habe ich nicht im Heim gelernt, das habe ich nicht in der Freiheit davor gelernt. Trotzdem habe ich es gelernt, ich muss es also noch Davor gelernt haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber es gibt ein Davor. Das gibt mir ein wenig Hoffnung.

Ich bin an der Mauer angekommen. Dort ist eine kleine Tür. Sie ist nicht abgeschlossen, aber auch nicht groß genug, hindurchzugehen.
"Lass mich los!", ein heller Schrei tönt durch die ansonsten stille Straße.
Hinter der Tür ist ein kleiner Tunnel, vielleicht könnte ich mich hindurchzwängen.
"Und wenn Du tausendmal mein Vater wärst! Hör' auf, mich zu betatschen!", ich bin mir sicher, dass diese Stimme aus dem offenem Badezimmer tönt, von dem Mädchen stammt.
Es scheint kaum Licht in den Tunnel. Weiter hinten kann ich eine Treppe erkennen. Ob ich krabbelnd auch noch die Treppe hoch käme. Aber wohin führt sie? Offensichtlich ist da kein Licht.
"Also wenn Du das so siehst,", es klatscht, dann knallt etwas.
Mir wird klar, dass ich die andere Stimme kaum gehört habe. Mir wird erst jetzt bewusst, dass ich das Mädchen verstehen konnte. Ich blicke zu der Tür, wo ich den Hauseingang vermute. Ich kann jedoch nicht dorthin gehen, das wäre zurück.
Die Tür öffnet sich, sie tritt heraus, angezogen, knallt die Tür zu, wie auch schon oben, schaut sich um und bemerkt dann, dass ich sie trotz Erziehung wie hypnotisiert anstarre.
"Hallo", ruft sie mir zu und geht in meine Richtung, mustert mich.
Tiefbraune Augen
fragt dann, "Ich muss hier raus. Haste Lust, zusammen auszureißen?". "Ich glaube, das bin ich schon.", ich zweifle, dass sie mich hören, verstehen kann, meine Sprache spricht.
Sie scheint mich zu verstehen, lächelt, "na dann komm' mit!". Aus einem Vorgarten zaubert sie eine Leiter hervor, lehnt sie an die Mauer. Auch sie will oder kann nicht zurück.
Es ist keine Mauer, es ist ein Schuppen. oder etwas ähnliches. Er hat halt nur kein Tor zur Sackgasse.
Auf dem Dach sind drei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen spielen zusammen, ein anderes Mädchen im gleichen Alter sitzt ein wenig abseits und liest ein Bilderbuch. Meine neue Gefährtin stellt uns nicht einander vor, sie geht nur zu ihnen hinüber, verabschiedet sich, küsst sie, sagt, dass es ihr Leid tut, sie aber nicht anders kann, kehrt zu mir zurück. "Sind das Deine Geschwister?", ich bin neugierig. "Nein", sie hält inne, "und doch wieder ja". Ich nicke. "Wolltest Du eigentlich wirklich durch diesen Mini-Tunnel?". Ich überlege, "vielleicht, wohin führt der denn?", sie zeigt auf eine Falltür, die unter Unmengen Krimskrams kaum noch zu erkennen ist, zugestellt ist, und wohl kaum von unten zu öffnen gewesen wäre. Eine Sackgasse in der Sackgasse.
Auf der anderen Seite kann man ganz einfach runterklettern. Kurze Zeit später sind wir auf einem Platz, den ich heute schon vielfach gesehen habe. Sie zieht in eine Straße, von der ich sicher bin, sie auch schon oft heute durchlaufen zu haben, aber sie scheint sich hier auszukennen und ich folge ihr.
Es wird dunkel.


Es wird hell.
Ich gehe durch die Straßen, ich irre durch die Straßen. Sie ist bei mir, führt mich.
Obwohl sie sich hier auskennen sollte, weiß ich, dass wir immer und immer wieder an den gleichen Stellen vorbeilaufen. Ich glaube, dass sich keine der Straßen verändert hat, dass alles noch so wie gestern ist, dass es vielleicht sogar gestern ist. Aber diesmal bin ich nicht alleine.
Ich frage sie, was die Zeichen, die ich für Buchstaben halte, bedeuten. Sie sagt mir, sie wisse es nicht, sähe sie heute zum ersten Mal, könnte auch keinen Sinn darin erkennen.

Wir scheinen an einer Art zentralem Platz anzukommen. Viele Straßen führen von hier fort. Die meisten haben wir schon mehrfach durchlaufen, kommen aber doch immer wieder hier an. Dennoch scheint sie ihren Weg zu kennen.
Der Buchladen ist verschwunden, wurde durch ein Obstgeschäft ersetzt. Sie drängt darauf, einmal durchzugehen.
Das Gesprächswirrwarr klingt wie gestern, unverständlich, fremde Sprache. Als wir wieder draußen sind, frage ich sie, ob sie etwas davon verstanden hat. "Ne, die müssen irgendeine komische Sprache sprechen." - "Aber gestern hat Dein Vater doch genauso geredet. Hast Du das nicht verstanden?" - "Das brauche ich nicht.", ernster "Und er ist nicht mein Vater." Ihr Stimmklang macht klar, dass das Thema beendet ist, zu sein hat. Dann fischt sie zwei Äpfel aus der Tasche, bietet mir einen an. "Haste die jetzt geklaut?" - "ist ja schließlich kein Schauhaus" sie wirkt stolz. Ich schüttel den Kopf. "die Leier mit der Moral?" - "kein Hunger." Es ist wahr, ich habe keinen Hunger, obwohl ich mich nicht erinnern kann, etwas gegessen zu haben, auch nicht im Davor.
Sie steckt den einen Apfel wieder weg. "Für später" und verspeist den anderen bis auf den letzten Rest, schmeißt den Rest weg.

Ich erwarte den Zeitungsstand, plötzlich ist er da. Wir gehen hinüber und betrachten die Zeitungen. Der Verkäufer scheint mich nicht wiederzuerkennen. Ich erwarte fast, dass eine der Zeitungen meine Sprache spricht, weil es ja inzwischen nicht mehr nur meine ist. Dennoch sind sie alle unlesbar. Die Zeitung, die gestern zumindest bekannte Buchstaben hatte, ist nicht hier, dafür finden wir das Bild. Ich weiß nicht, ob der gleiche Text wie gestern drumherum steht, habe mir die Zeichen nicht gemerkt. Das Bild hat sich verändert. Ich bin mir sicher, dass es Ben ist, aber sie behauptet sicher, die Person nicht zu kennen, behauptet sicher, nichts von dem Heim zu wissen.

Ich bin inzwischen bereit, irgendwelche Passanten zu fragen, vielleicht könnte die Polizei wirklich weiterhelfen. Sie hält mich davon ab, hat Angst, nach Hause zurückgebracht zu werden, will nicht zurück nach Hause, will frei sein.
Ich habe einen Verdacht, frage sie, wer sie ist, ob sie einen Ausweis dabei hat. Sie verneint, keine Tashe, kein Ausweis, keine Identität, will frei sein.

Und wieder versuchen wir eine der Straßen, durchwandern, durchirren sie, immer geradeaus, ohne Kurven, ohne abzubiegen.
Und wieder erreichen wir den zentralen Platz mit dem Obstladen. Ich erwarte schon vorher, dass der Zeitungsstand verschwunden ist.
Kein Restpapier, keine Personen - als ob er nie dagewesen wäre.
Meiner Gefährtin fällt eine "neue" Straße auf. Ich meine, sie wiederzuerkennen. "Ist das nicht der Weg zu Dir nach Hause?", sie winkt ab, "welches zu Hause?". Wir gehen in die Richtung.
Ich frage sie, warum wir diese Straße nicht vorher gesehen haben, wo wir doch schon unzahlmal an diesem Platz waren, sie weiß keine Antwort.

Es ist der gleiche Durchgang, das gleiche Portal, derselbe Innenhof - und wieder Sackgasse.
Sie wirkt unsicher, als sie die Wand erblickt. "Geht es nicht mehr weiter? Ist es zu Ende?"
Es sind immer noch Zeichen, Buchstaben an den Türen. Wir sehen sie uns an, während wir langsam auf das Ende zusteuern. Sie erkennt die Zeichen nicht, ich weiß nicht, ob es die gleichen wie gestern sind.
Ich zeige auf das Fenster, auf das Fenster, wo ich sie gestern gesehen habe. Das Fenster ist auf, es ist niemand in dem Zimmer. Sie sagt, sie weiß nicht, was dort ist.
An dem Haus, das sie verlassen hat - war es gestern oder heute oder immer - erkennt sie die Zeichen, Buchstaben, Namen genausowenig wie überall. Sie erinnert sich nicht, jemals dort gewesen zu sein. "Wo kommst Du her?", "Ich weiß es nicht. Sind wir nicht schon Ewigkeiten, Immer, zusammen unterwegs? Gibt es ein Davor? Gibt es ein Danach?"

Wir nähern uns der Mauer, sie zittert, betrachtet das kleine Türchen. "Keine Angst", ich probiere, mich zu erinnern, wo sie gestern die Leiter her hatte, finde sie.

Auf dem Dach setzen wir uns hin. Betrachten die Aussicht, versuchen, uns zu orientieren. zu orientieren, in einer Gegend, die falsch ist, die nicht funktioniert. Unwirkliche Welt.

Die drei Kinder sind wieder da. Die beiden Mädchen sitzen zusammen, betrachten uns, stecken die Köpfe zusammen, tuscheln, und kichern. Meine Gefährtin streckt ihnen die Zunge raus und wir klettern vom Dach.

Ich habe einen Verdacht, frage "Kennst Du die?" - "Keine Ahnung"

Etwas später sind wir wieder am Obstladen. Er schließt langsam.
Wir bleiben stehen, wissen nicht, wohin wir gehen sollen, entscheiden uns nochmal für irgendeine Straße.
Es wird dunkel.


Es wird hell.
Wir gehen durch die Straßen. Sie ist bei mir, wir haben keine Eile mehr, es hat keinen Sinn mehr, es abzustreiten. Wir sind verloren.
Wir kennen uns beide nicht aus, sind uns sicher, dass man sich hier nicht auskennen kann, weil das Hier falsch ist. Wundern uns, dass andere Menschen hier wandeln und nicht ziellos umherirren wie wir. Ich glaube inzwischen, die Straßen immer wieder wiederzuerkennen, so oft habe ich sie schon gesehen.

Die Zeichen, Buchstaben, Wörter scheinen uns zu verhöhnen, sie scheinen noch komplizierter, unlesbarer geworden zu sein. Sicher sind wir uns natürlich nicht, da wir sie nicht behalten können.

Es fällt uns leicht, den zentralen Platz wiederzufinden. Es ist unmöglich, ihn nicht zu finden. Alle Wege führen von hier fort und alle kommen auch wieder hier an.

Der Buchladen, das Obstgeschäft, sie sind beide nicht hier. Stattdessen ist hier eine Hausruine, die nicht erkennen lässt, was sie früher mal war.

Sie bringt einen Apfel hervor, bietet ihn mir an. Ich habe immer noch keinen Hunger. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe, ob ich jemals etwas gegessen habe.
"Dann nicht. Ich sterbe vor Hunger."
Sie verspeist den Apfel, wirft den Rest achtlos in die Gegend. Irgendjemand meckert in einer fremden Sprache.

Einen Weg später, an der gleichen Stelle, warten, hoffen wir wieder auf den Zeitungsstand. Ein festes wiederkehrendes Element in dieser unwirklichen Wirklichkeit. so fest und wiederkehrend, wie der Buchladen, das Obstgeschäft und jetzt die Ruine. So fest und wiederkehrend wie dieser zentrale Platz. Ich überlege einen Moment, was passieren würde, wenn wir hierhin nicht wiederfinden würden. Ich bekomme Angst.

Der Stand ist derselbe, muss derselbe sein. Der Verkäufer ist derselbe, muss derselbe sein, auch wenn er uns nicht offensichtlich erkennt. Nur verkauft er keine Zeitungen, keine Zeitschriften, keine Bücher in fremden Lettern, er bietet irgendwelche Kabel an. Wir machen uns gar nicht erst die Mühe, sein Angebot näher zu betrachten, sondern warten geduldig, bis er plötzlich wieder verschwunden ist.

Inzwischen ist auch meine Gefährtin bereit, Passanten anzusprechen. Wir wollen beide weg von hier. Egal, wohin, einfach nur raus aus dieser Unwirklichkeit.
Wir sprechen abwechselnd ein paar Leute an. Die Reaktion ist immer gleich, sie schauen uns an, wirken überrascht, einige schütteln den Kopf, murmeln irgendetwas Unverständliches und gehen weiter.
Keiner ruft die Polizei, oder etwas ähnliches. Keiner scheint auch nur das Wort zu verstehen. Wahrscheinlich klingen wir auf sie unverständlich, wie sie auf uns.
Wir suchen noch einmal ein paar Straßen ab, nach irgendetwas, was helfen könnte. Irgenein Amt, Polizeistation, finden nichts. Ein paarmal klingeln wir an irgendwelchen Türen, uns öffnet niemand.
Wir geben diesen Gedanken auf. Selbst wenn wir ein Amt oder so finden würden, könnte uns dort wahrscheinlich niemand weiterhelfen. Wir sprechen unverständlich, lesen ihre Schrift nicht und haben auch nichts bei uns, woran man uns erkennen könnte. Ich wünsche mir langsam meinen Rucksack, einen Ausweis oder etwas anderes, würde fast alles tun, um nicht mehr so frei zu sein. Sie denkt ähnlich.

Es ist wieder diese eine Straße aufgetaucht. Die den Eindruck erweckt, neu zu sein. Sie beteuert, die Straße nicht zu kennen, Heimat nicht zu kennen. Ich frage sie erst gar nicht.

Wir entscheiden uns, nochmal diese Straße zu probieren. So eine Art letzter Versuch.
Die Straße ist anders, sie ist länger, führt durch mehrere Portale, Durchgänge. Fast glauben wir, eine Art Ausgang gefunden zu haben, da taucht auch schon die vertraute Sackgasse wieder auf.

Sie hat diesmal keine Angst, sucht mit den Augen nach der Stelle, wo die Leiter liegt.
Das Fenster, wo ich sie das erste Mal sah, ist geschlossen. Es ist schwer, sich sicher zu sein, dass es das richtige Fenster ist.
Vor dem Haus, vor der Tür des Hauses, in der ich ihre alte Wohnung vermute, schlage ich ihr vor, einmal zu klingeln. Vielleicht macht jemand auf, vielleicht könnte ein Wiedersehen diese Irrealität auflösen, uns beunfreien.
Sie klingelt, es macht keiner auf. Ich klingel, es macht keiner auf.
Sie hat keine Tasche, keinen Schlüssel, wollte keinen Schlüssel, wollte frei sein.
Wir geben die Tür auf, bewegen uns weiter in Richtung Wand. Sie findet die Leiter, unseren Weg aus der Weglosigkeit und wir klettern auf das Dach.

Die drei Kinder sitzen zusammen. Eigentlich sitzen die beiden Mädchen um den Jungen herum, wirken besorgt, sehen uns, und wirken erschrocken.
Der Junge liegt auf dem Rücken. Er hat den Mund voll mit Körnern, ich weiß nicht, was für Körner, sehe den weißen, offenen Sack, in dem noch mehr davon sind. Ich kann die Schrift nicht lesen, bin aber sicher, dass man das nicht im Mund haben sollte.
Aussetzer. Ich bewege mich, ohne zu kontrollieren, schaue wie von außen zu, wie mein Körper panisch den Mund ausschaufelt. Keine Handvoll, aber ein bisschen, und noch ein bisschen, und noch ein bisschen.
Einsetzer. Ich bin wieder da, das Zeug brennt auf der Haut. Ich rufe "Wir müssen einen Arzt rufen". Sie schreit "Nein!".
Ich weiß nicht, ob die Kinder uns verstehen können, achte nicht auf die Kinder.
"Warum nicht?, wer weiß, was ihm sonst passieren kann", es ist kein Schreien mehr, "Er hatte Hunger. Das ist nicht das erste Mal und es ist ihm noch nie was passiert."
Inzwischen glaube ich, dass der Junge durch den Mund wieder atmen kann, höre nicht auf.
- "Aber" - "Wenn ein Arzt kommt, kommt das Jugendamt. und nimmt sie den Eltern weg. Die haben kaum was. Die Familie ist das einzige, was sie noch haben."
Der Junge atmet, scheint okay, ich probiere, ruhiger zu werden.
"Woher weißt Du das?"
Es wird dunkel.


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